Erste Auferstehung
Den Wecker muss meine Tante, Sabine, gar nicht stellen. Vor lauter Aufregung hat sie nämlich kaum geschlafen. Das liegt nicht an irgendwelchen sorgenvollen Gedanken, sondern weil sie die
Liste für den morgigen Tag nochmal gedanklich durchgegangen
ist. Schließlich soll alles perfekt sein!
Onkel Volker hat bereits den Garten vorbereitet: Rasen gemäht, Stühle und Bänke zu einer langen Tafel aufgestellt, damit die ganze Familie Platz hat und der Pool wurde auch schon wieder gereinigt.
Garten: Check
„Hat Maren an alles gedacht?“, fragt sich meine Tante und meint damit meine Mutter. Aber dann fällt ihr ein: So vergesslich oder tüdelig wie damals ist sie schon lange nicht mehr. Maren
bringt zwei verschiedene Salate mit, die sie in ihrem Garten selbst geerntet hat.
Salate: Check
Lydia und Jörg sollen einige Getränke mitbringen: Fliederbeersaft für Onkel Volker, Zitronenlimonade und natürlich ihr erfrischendes Brunnenwasser!
Getränke: Check
Simon und Lisa haben bereits den Grill gereinigt und bringen das Fleisch mit.
Fleisch: Check
Hanna und Elias machen nicht nur den Nachtisch, sondern sorgen auch für das Entertainment. Sie haben extra einige Dance-Moves und eine Bauchtanzperformance zur Feier des Tages einstudiert.
Unterhaltungsprogramm: Check
Ach ja, und Ruppert und ich wollten eine dreistöckige Torte machen. Tante Sabine hatte mich gestern noch angesprochen und gefragt, ob wir im Zeitplan sind. Natürlich, denn wir zwei sind ein spitzenmäßiges Team, auch in der Küche. Die Ananasfüllung ist schon im Kühlschrank, die Biskuitböden sind auch schon fertig und die weiße Ganache bereite ich gerade noch vor.
Torte: Check
Dann bleibt nur noch die Deko, um die sich Tante Sabine kümmern wollte. Die lange Tischdecke in kräftigem Gelb hatte sie schon vor einiger Zeit fertig genäht. Gelb ist schließlich seine Lieblingsfarbe. Die bunten Kerzenständer hat sie getöpfert und bemalt und das Keramikgeschirr sieht wunderschön aus. Die Servietten sind mit einem lieben Willkommensgruß für André, ihren Sohn, geprägt. Sie hat sich wirklich viel Mühe gegeben und wochenlang mit Onkel Volker auf
diesen Tag hin gefiebert.
Wie oft blickte sie mit uns zurück und dachte nochmal über diejenigen nach, die wir in all den Jahren verloren haben…Insgeheim ist sie froh, dass sie und Onkel Volker André zuerst willkommen heißen dürfen. Das Auferstehungsdaten für Oma Renate und meinen Papa Carlos sind leider noch nicht bekannt. Aber das ist nicht schmerzhaft, sondern nur aufregend und die Vorfreude ist auch hier schon riesengroß.
Plötzlich wird meine Tante aus ihren Gedanken gerissen, weil Onkel Volker ruft:
„Sabine komm! Wir müssen los!“
Au weia. Ist schon so spät? Sie zieht sich ihr Lieblingskleid an und rennt die Treppe hinunter. Onkel Volker wartet bereits an der Gartenpforte. Sie wirkt nervös, aber nicht angespannt.
Ihr Herz pocht vor Freude bis zum Hals.
Die beiden eilen zum Meer und gehen zu der Sammelstelle am Strand. Dort treffen sie andere Brüder und Schwestern, die sehnsüchtig auf ihre Lieben warten. Mit einem Mal sehen sie ein Schiff von weitem auf sich zukommen. Einige der Auferstandenen werden nämlich auf den sogenannten „Weck – Decks“ an Bord dieser Schiffe wieder zum Leben gebracht und segeln direkt Richtung Ufer.
An der Reling stehen viele Menschen, die ihnen aus der Ferne schon mit Tüchern zuwinken. Jetzt ist das Schiff näher dran, aber Tante Sabine und Onkel Volker können André trotz ihrer vollkommenen Augen noch nicht erkennen. Plötzlich passiert etwas, mit dem sie nicht gerechnet haben: Ein junger Mann klettert über die Reling, springt ins Wasser und macht eine richtig große Po-Bombe.
Er schwimmt recht schnell zum Strand und läuft ihnen in die Arme. Wer sonst hätte so gut schwimmen können wie André!
Und da ist er endlich! Die lange Zeit des Wartens hat sich gelohnt. Ich freue mich so sehr für die drei, dass sie sich wiederhaben, endlich wieder vollständig sind. Vorbei sind die Jahre ohne ihren Sohn. Jehova hat alles wieder gutgemacht, wie er es versprochen hat. Ich denke, heute Abend wird kräftig gefeiert!