Rückblick - Große Drangsal
Rückblick
Heute ist ein ganz besonderer Tag! In dieser turbulenten Zeit habe ich zwar immer noch gehofft, aber nicht mehr geglaubt, dass ich das noch erleben darf: Mein Onkel lässt sich taufen!
Er war sich zwar sicher, dass es Jehova gibt und sich alles so erfüllen wird, wie er es versprochen hat… Dennoch konnte er sich lange nicht für die letzten erforderlichen Schritte entscheiden…
Mittlerweile befinden wir uns in der Großen Drangsal. Es ist noch nicht lange her, dass die großen Religionen verboten wurden. Wir werden von allen Seiten überwacht. Das Bargeld wurde abgeschafft und unsere Transaktionen mit digitalem Geld werden eingeschränkt. Oft erhalten wir noch nicht mal die Freigabe, uns Essen zu kaufen. So zittern wir jedes Mal an der Kasse, ob nach dem Einlesen der Karte der Code „Abgelehnt: religiöser Extremismus“ angezeigt wird oder eben nicht. Wir verhungern zwar nicht, da die Meldung nicht immer, sondern willkürlich erscheint, dennoch ist es ein Spießrutenlauf. Denn wenn der Code aufblinkt, verwandelt sich die Kassiererin in einen anderen Menschen. War sie eben noch nett und freundlich, beschimpft sie uns jetzt voller Hass und schmeißt uns raus. Auch die anderen Kunden hinter uns an der Kasse werden wütend. Schließlich können wir dann nach dem Ablehnen unserer Karte nicht bezahlen und die Kassiererin muss die Teile erst vom Kassenband nehmen und zurückbringen. Natürlich ist diese Hetze und das Aufwiegeln der Leute gewollt. Und so läuft es in allen Bereichen des täglichen Lebens.
Aber das ist noch nicht mal das Schlimmste. Mehrere führende Brüder sind in allen Ländern der Erde bereits im Gefängnis, darunter auch Brüder der Leitenden Körperschaft. Die Gesalbten befinden sich also noch auf der Erde und wir wissen somit nicht, wie lange wir noch ausharren müssen. Wenn die wenigstens schon im Himmel wären, wüssten wir zumindest, Harmagedon steht vor der Tür. Aber so…. es ist wirklich nicht leicht.
Besonders unerträglich ist die Unsicherheit in der Versammlung. Letztens gab es wieder einen Fall, dass jemand, den ich immer für ein Vorbild gehalten habe, einige Brüder bewusst ausspioniert und verraten hat. Seine Frau wusste von alldem nichts und ist regelrecht erschüttert. All ihre Pläne für das Paradies mit ihm, sind nun hinfällig. Wir versuchen ihr beizustehen, doch andere haben sich ganz von ihr abgewandt, da sie ihr auch nicht mehr trauen. Das ist zwar einerseits verständlich, denn viele lassen sich von ihrer Angst leiten. Auch ich habe manchmal ein komisches Gefühl im Magen, wenn ich ihr mitteile, wo wir uns in dieser Woche heimlich versammeln werden, um Jehova anzubeten. Denn ich möchte nicht schuld sein, wenn unsere gesamte Gruppe ins Gefängnis kommt.
Andererseits wissen mein Mann und ich aus der Vergangenheit wie es sich anfühlt, wenn man ausgegrenzt wird. Da wir das im Hinterkopf behalten, gibt uns das und natürlich Jehova die Kraft, uns um sie zu kümmern.
Aber es gibt auch viele Dinge, die zeigen, wie sehr wir uns unterstützen. Denn in unserer Welt herrscht mittlerweile Chaos. Viele sind mittellos, hungern und haben kein Dach mehr über dem Kopf. Es fanden sogar schon Plünderungen statt und ein ganzer Häuserblock hat letzte Woche aufgrund von Straßenkämpfen gebrannt. Jeder denkt nur noch an sich.
Der Unterschied zu Gottes Volk ist deutlich zu erkennen: Wir sorgen wirklich füreinander. Einige haben Brüder aufgenommen, die ihre Arbeit und ihr Zuhause verloren haben. Eine alleinstehende Schwester hat letzte Woche zum Beispiel eine ganze Familie bei sich einziehen lassen, obwohl sie selbst nicht viel hat. Und wir wohnen auch nicht mehr nur zu zweit... Das ist gar nicht so einfach. Aber irgendwie geht es. Immer wenn ich ausrasten möchte, weil mir alles zu viel wird, rufe ich mir wieder ins Bewusstsein, dass wir es bald geschafft haben.
Auch teilen wir unser Essen und machen uns gegenseitig Mut. Als Predigtdienstgruppe haben wir vereinbart, dass jeder ein anderes Königreichslied auswendig lernt und wenigstens drei stärkende Bibeltexte. Falls wir dann keine Literatur mehr zur Verfügung haben, sind wir als Gruppe gewappnet. Schließlich rechnen wir damit, uns bald im Keller verstecken zu müssen. Genaue Anweisungen diesbezüglich haben wir jedoch noch nicht erhalten. Vielleicht kommt es auch alles ganz anders. Doch eines ist sicher:
Jehova steht an unserer Seite! Davon bin ich überzeugt!
Wir halten also mehr denn je zusammen und nur manchmal gibt es eben einige Ausreißer: Einige wenige machen den Brüdern das Leben schwer, weil sie eigene Regeln aufstellen. Ich denke, das gibt ihnen Sicherheit. Viele brauchen Regeln, um das Gefühl von Kontrolle bewahren zu können. Bei vielen liegen die Nerven blank, schließlich sind wir alle durch die vorangegangenen Jahre bereits extrem erschöpft.
Ruppert und ich erinnern uns gegenseitig daran, uns in solche Personen hineinzuversetzen und Mitleid mit ihnen zu haben, statt wütend und enttäuscht zu sein. Das wünschen wir uns ja auch von ihnen, wenn wir uns mal daneben benehmen.
Außerdem beten wir jeden Tag darum, dass wir es bald überstanden haben und Jehova der Menschheit mit seiner unendlichen Macht demonstriert, wer er ist. „Und sie werden erkennen müssen, dass ich Jehova bin“ (Hesekiel 38:23). Wie freue ich mich doch auf diesen Tag!
Nun, den heutigen Tag habe ich auch immer herbeigesehnt. Wir sind für heute Abend um 22 Uhr am Fluss verabredet, um bei Onkel Volkers Taufe anwesend zu sein. Wir dürfen uns leider nicht schick machen, damit wir nicht auffallen, aber das ist ok. Der Plan ist, dass sich Onkel Volker mit Tante Sabine zum Baden in den Fluss begibt. Sie schwimmen einige Runden und wir schauen aus der Ferne zu. Der Bruder, der zuletzt mit ihm studiert hat, tarnt sich als Spaziergänger und kommt gespielt zufällig vorbei. Er unterhält sich mit den beiden und fragt, wie kalt das Wasser ist und kommt kurzerhand auch hinein. Wir beobachten die Gegend und geben per Handzeichen Entwarnung. Dann ist ein guter Moment, Onkel Volker unter das Wasser zu tauchen. So ist zumindest der Plan…
Es hat alles gut geklappt und wir haben alle geweint. Onkel Volker war der Letzte aus unserer Familie und die Tatsache, dass er es vor Harmagedon noch geschafft hat, ist ein unbeschreiblich schönes und erleichterndes Gefühl.
Spannend eigentlich, wenn ich so recht darüber nachdenke. Onkel Volker hat erst Fortschritte gemacht, als das Predigtwerk bereits verboten war. Manche Personen wachsen gerade in schwierigen Zeiten über sich hinaus. Ich bewundere wirklich seinen Mut! Er hatte keine Eingewöhnung in den Predigtdienst als wir die Menschen noch von Haus zu Haus besuchen durften und sie alle noch friedlich waren. Doch jetzt, wo wir unheimlich aufpassen müssen, traut er sich mit den Menschen über Jehova zu sprechen. Auch die heimlichen Gruppentreffen, bei denen wir jedes Mal Gefahr laufen, verhaftet zu werden, besucht er regelmäßig. Ich bin so stolz auf ihn und danke Jehova, dass er ihm „die Kraft, die über das Normale hinausgeht“, gegeben hat (2.Korinther 4:7).
Diesen wunderschönen Tag habe ich wirklich gebraucht, um aufzutanken. Die nächsten Wochen muss ich Zwangsarbeit verrichten. Als „Geduldete“, so werden wir ab und zu genannt, müssen wir regelmäßig niedere Arbeiten verrichten. Wir tragen dann Westen, die uns als solche kenntlich machen und das bedeutet wieder Hass und Hetze.
Generell darf keiner mehr das Wort „Gott“ in den Mund nehmen, was uns selbst das geheime Predigen zunehmend erschwert. Mit dem Verbot der großen Religionen kam auch die Sprachpolizei. Was vor dem Ausrufen von Frieden und Sicherheit langsam begann, hat sich nun extrem verstärkt. Viele Wörter wurden aus unserer Sprache gestrichen. Statt „Gott“ sagt man „Mächtiger“ und so werden die regierenden Politiker automatisch, wenn auch indirekt, zu Göttern. Denn sie haben Macht und zeigen dies deutlich. Aber nicht mehr lange. Ich kann Jehovas Regierung schon fast im Himmel sehen; so sicher bin ich mir!
Ein Blick in den Kalender und mir wird übel. Nächste Woche wird wieder eine 5-tägige Demonstration gegen die Religionen veranstaltet. Gleichzeitig soll es auch ein Stadtfest mit kostenlosen Getränken sein, damit so viele wie möglich teilnehmen und mitmachen. Wir wissen mittlerweile, was uns da erwartet, denn vor einigen Monaten gab es das schon mal… Sie ziehen wahllos durch die Straßen und rufen ihre Parolen. Spätestens am frühen Nachmittag müssen wir zu Hause sein, denn abends starten die Orgien. Der Alkohol fließt in Strömen und die Menschen sind inzwischen hemmungslos. Beim letzten Mal habe ich Sachen gesehen, die ich nicht mehr aus dem Kopf kriege. Ich habe mich inmitten von Sodom und Gomorra gefühlt…
Dennoch staune ich, wie Jehova uns alle regelmäßig stärkt. Ich weiß, dass wir mit Jehova alles schaffen können, und das gibt mir Kraft und innere Ruhe, sobald ich darüber nachdenke.
Apropos, was sind denn die guten Dinge, über die ich mit Ruppert nachher mal sprechen kann:
Natürlich nochmal der heutige Anlass: Onkel Volkers Taufe. Ich freue mich so sehr für Tante Sabine, weil sie so viel durchgemacht hat. Sie nach Andrés Tod so glücklich und gelöst sehen zu können, macht auch mich glücklich.
Auch bin ich dankbar dafür, dass bisher alle aus der Familie weiter treu sind. Ich weiß, dass das nicht selbstverständlich ist und wir großes Glück haben. Wir sind fest entschlossen, weiterzukämpfen. Die letzten Tage dieses Systems sind gezählt und die Erfüllung der Prophezeiungen hautnah mitzuerleben, lässt uns weiter durchhalten.
Ja, über solche Dinge möchte ich auch morgen bei der Zwangsarbeit nachdenken. Und ich werde mir Harmagedon vorstellen. Welche Machttaten vollbringt Jehova und wie wird er uns retten?