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Tag X - Harmagedon

Tag X - Harmagedon

„Schnell“, ruft mein Mann mir zu. „Wir haben es gleich geschafft!“, spornt er mich an und zieht mich den Berg nach oben. Gerade als ich nicht mehr kann, kriege ich so eine Art Rückenwind. Es fühlt sich so an als würde eine unbekannte Kraft mich anschieben. Als wir den Gipfel erreichen, drehe ich mich um. Eine Lichtgestalt, so etwas habe ich noch nie gesehen, blickt mich liebevoll an und erklärt: „Ihr seid in Sicherheit! Seht die Rettung Jehovas!“

„Bruder Hamann?“ frage ich verwirrt. Bevor ich mich bedanken und weitere Fragen stellen kann, zwinkert er mir verschmitzt zu und ist im selben Moment auch schon wieder weg. Ich bin mir sicher, er hilft anderen.

„War das gerade ein Engel?“, stottert mein Mann. Ich nicke schweigend und kriege zunächst kein Wort heraus. Wow, denke ich mir. Danke Jehova! Das habe ich mir immer gewünscht: einen Engel zu sehen. Wenn nicht jetzt, wann dann. Wahnsinn!!! Ich wusste, dass Jehova uns auf spektakuläre Weise retten würde. „Das war einer der Gesalbten aus unserer Versammlung“, erlange ich meine Stimme wieder. „Als er gestorben ist, war ich noch ein Kind.“ „Wow“, sagt jetzt auch mein Mann.

 

Als plötzlich die Anweisung kam, die Wohnung ohne alles zu verlassen, noch nicht mal den Notfallrucksack, waren wir etwas in Sorge. Keine Decke, keine Nahrung, keine weitere Kleidung. Andererseits waren wir froh, aus der Stadt zu kommen und uns mit den Brüdern und Schwestern zu treffen. „Das muss der Endspurt sein!“, sagte mein Mann voller Zuversicht und ich hätte am liebsten losgeheult. Nicht, weil ich irgendwelche Dinge zurücklassen musste, sondern vor Erleichterung. Die letzten Monate waren die Hölle…

Eine Umarmung reißt mich aus meinen Gedanken. Mama ist da und die anderen aus meiner Familie auch. Ich bemerke, wie mein Körper ruhiger wird und der Stresspegel allmählich sinkt. Alle meine Lieben haben es bis hierhin geschafft. „Mehr müssen wir nicht tun“, sagt eine ältere Schwester. „Den Rest überlassen wir Jehova!“ Wie recht sie hat.

Wir umarmen die anderen Brüder aus unserer Versammlung und blicken von der Aussichtsplattform herunter auf die Stadt. Die Blitze werden immer stärker und das Geschrei stetig lauter. Im ersten Moment ist die Geräuschkulisse kaum zu ertragen. Diese Menschen werden sterben. Doch dann fällt mir ein: Jehova vollzieht das Strafgericht nicht an unschuldigen Menschen. Ich muss um keinen hier weinen. Ich bin einfach nur stolz auf meinen Gott, dass er sein Versprechen endlich wahrmacht und uns alle befreit. Wir stehen als Familie da und beten. Beten aus Dankbarkeit und mit der Bitte, dass wir durchhalten.

Mir ist gar nicht kalt, denke ich. Und ich habe keinen Hunger, obwohl es die letzten Wochen so wenig gab. Erstaunlich! Das muss auch ein Wunder sein.

Eine Schrift erscheint am Himmel mit Jehovas Namen. Durch den Donner hört man seine Stimme. Er macht den Menschen unmissverständlich klar, dass er der wahre Gott ist und spricht sein Gerichtsurteil. Hier und da kann ich brennende Häuser erkennen. Jetzt färbt sich der Himmel rot.

„Es sind alle da!“, sagt ein Ältester mit einer langen Liste in seiner Hand erleichtert zu meinem Mann. Die beiden umarmen sich.

Was ist das? Ich höre etwas. Ein sich schnell herannahendes Auto fährt den Berg hinauf. Der Fahrer des Wagens hupt wie wild. Er macht eine Vollbremsung und läuft schwer bepackt mit einem Koffer und einer großen Reisetasche die letzten Meter zu Fuß hoch. Plötzlich erscheinen mehrere Engel und stellen sich ihm in einer Reihe entgegen. „Sie lassen ihn nicht mehr hinein!“, haucht die ältere Schwester neben mir. „Er kommt zu spät.“ Jetzt erkenne ich sein Gesicht. Ich kann mich kaum an ihn erinnern. Er wurde vor einigen Jahren ausgeschlossen und ist selbst nach dem spektakulären Fall Babylons nicht wiedergekommen… Nun versucht er sich einen Weg durch die Engel zu bahnen, die, wie damals vor dem Garten Eden, mit einem brennenden, rotierenden Schwert den Einlass versperren. Ich und einige andere halten sich die Hände vor die Augen und gucken durch die kleinen Schlitze, die übrig bleiben. Wir wissen, was passieren wird. Ich höre einen Schrei und sehe, wie er sich blitzschnell auflöst als er dem Engel zu nahe kommt. Keine Blutspritzer, sondern er ist einfach weg: ein schneller Tod. Auch daran erkenne ich Jehovas Barmherzigkeit. Dieser Tag ist wahrscheinlich auch nicht leicht für ihn. Andererseits ist es für das gesamte Universum ein Befreiungsschlag. Ich freue mich auch für Jehova, denn bald sind alle seine Verleumder auf der Erde endlich weg.

Nach einigen Stunden wird es leiser und wir alle werden ruhiger. Mittlerweile haben wir uns hingesetzt; direkt auf den Boden. Trotz der niedrigen Temperaturen friere ich nicht. Ein kleines Kind blickt zuerst nach oben und zeigt auf die gleitenden kleinen Päckchen, die langsam nach unten schweben. Was mag das sein?

Jeder bekommt eines und wir alle öffnen es aufgeregt. Darin befindet sich eine kleine Schale mit weißem Pulver darin.

„Mama, Manna!“, begreift das Kind als erstes von uns allen. Alle staunen. Jemand tastet sich vor und probiert mit der Fingerspitze. Es ist köstlich! Wir bedanken uns bei Jehova. Das wäre nicht nötig gewesen, weil keiner von uns durch die Aufregung Hunger hatte. Dennoch schickt er uns diese liebevolle Gabe.

Wir können unser Glück immer noch nicht fassen. Wir alle stehen an der Schwelle zum Paradies. Unser Ziel der letzten Jahre, Jahrzehnte oder sogar das lebenslange Ziel ist fast erreicht. Es ist ein komisches Gefühl und kommt nicht nur mir so unwirklich vor.

Die Zeit vergeht und wir alle werden nach und nach müde. Keiner von uns hat eine Decke, dennoch fehlt es mir an nichts. Wie geht das? Wir liegen eng aneinander auf dem Boden. Er fühlt sich weich an. Die Bäume bewegen sich plötzlich und neigen ihre Äste und Blätter in Richtung Boden. Es fühlt sich wie eine kuschelige Decke an. ‚Unmöglich‘ gibt es heute nicht. Das ist mein letzter Gedanke, bevor ich mit einem friedvollen Gefühl einschlafe.

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