skopéō

Jahr 49

Jahr 49

„Da vorne ist sie!“, sage ich ganz hibbelig zu meinem Mann.

„Ich habe sie mir viel größer vorgestellt“, entgegnet er knapp.

„Wie? Weil starke, mutige Frauen größer sind?“, frage ich gespielt angefressen in Anbetracht meiner geringen Körpergröße.

„Schatz, so war das nicht gemeint.“

„Weiß ich doch“ und gebe zu, dass ich ihn etwas auf`s Korn genommen habe. „Was soll ich denn sagen? Ich traue mich nicht.“

Er lächelt verschmitzt. „So schüchtern kenne ich dich ja gar nicht. Fang doch einfach mal mit einem freundlichen ‚Hallo‘ an.“

„Ok“, stimme ich ihm zu und gehe ein paar Schritte auf die Frau im Garten zu. Sie hat einen Spaten in der Hand und gräbt gerade den Boden um.

„Haalloooo“, sage ich in einem total bescheuerten Ton als wäre ich 13 Jahre alt und würde das erste Mal mit meinem Schwarm reden.  

„Guten Morgen“, antwortet sie freundlich. „Du bist eine von denen aus jüngerer Zeit“, stellt sie fest.

„Ähhh???“ Toll, jetzt bin ich auch noch sprachlos.

„Na, ich stamme aus alter Zeit und du gehörst zu denen, die Harmagedon überlebt haben. Das erkenne ich an deiner Art wie du dich gibst.“

„Ach so. Cool!“

„Was heißt das?“, fragt sie irritiert.

„Es bedeutet sowas wie ‚toll‘. Ich bin übrigens Eva.“

„Wie ‚cool‘ ist das denn?“ Sie zwinkert mir zu. „Ich heiße auch Eva.“

„Das glaube ich jetzt nicht! Wow! Ich wollte dich schon so lange kennenlernen. Nur leider kannte ich nicht deinen Vornamen. Du warst immer nur die Frau von Manoach, die Mutter von Simson.“

„Soll ich Simson holen, damit du ihn interviewen kannst?“

Ich schüttele den Kopf. „Nein, ich wollte mit dir sprechen!“

„Wieso denn mit mir? Ich bin doch nur eine einfache Frau mit einem berühmten Sohn.“

„Nicht für mich und viele andere Frauen aus jüngerer Zeit. Du bist ein Vorbild für uns gewesen.“

Sie lacht. „Eigentlich wollen doch alle immer zu Esther oder Sarah, zu Recht wohlgemerkt. Ich habe doch wirklich nichts vorzuweisen.“

„Das stimmt nicht: Der Engel ist zu dir gekommen und hat mit dir gesprochen, erst später mit deinem Mann. Du schienst keine Angst gehabt zu haben.“

„Richtig. Ein Engel Jehovas würde mir sicherlich nichts Böses antun, habe ich gedacht.“

„Ja, aber Manoach war sich da anfangs nicht so sicher. Woher hast du das Vertrauen genommen?“

„Woher hast du das Vertrauen genommen als ihr in Harmagedon von allen Völkern der Erde getötet werden solltet?“

„Naja, ich kenne Jehova und wusste, er würde das nicht zulassen, so wie er das versprochen hat.“

„Ja, ich kenne Jehova auch“, sagt sie mit einem warmen Lächeln.

„Trotzdem hast du unheimlich tough reagiert als dein Mann dachte, ihr würdet sterben! Und du hast dich auch getraut, das offen zu sagen. Ein Beispiel für Emanzipation aus alter Zeit!“

„Emanzi- was?“

„Ach egal. Das ist kein wichtiges Wort mehr. Das dauert noch bis wir solche Sachen aus meiner Zeit vergessen haben.“

„Wie war deine Zeit so?“, fragt sie mich.

„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll…“

„Dann frage ich so: Was gefällt dir am Paradies am besten?“

„Da muss ich wirklich nicht überlegen: Ich fühle mich frei und friedlich in meinem eigenen Körper.“

„Oh, warst du eine Sklavin? Ich dachte, zu eurer Zeit gab es das nicht mehr.“

„Naja, zumindest nicht in meinem Teil der Erde. Aber nein, das war ich nicht. Hmm, wie erkläre ich das? Hoffentlich macht dir das nichts aus, dass ich das so offen anspreche…. Aber alle wissen, dass du eine Zeit lang unfruchtbar warst, bevor du Simson bekommen hast.“

„Ja, kein Problem. Da bin ich drüber hinweg.“

„Okay.. Das muss für dich eine sehr schwierige Zeit gewesen sein. Du warst bestimmt jeden Monat aufs Neue zu Tode betrübt, nicht wahr?!“

„Ja, das war nicht leicht. Ich war nicht ich selbst an diesen Tagen.“

„Genau. Das hast du schön beschrieben. In meiner Zeit hatten viele nicht nur zwischendurch mal traurige Tage, sondern eher traurige Monate oder Jahre. Das ist eine Krankheit, die wir Depressionen genannt haben. Man konnte körperlich gesund sein, eine liebevolle Familie haben und ein schönes Haus besitzen und trotzdem so traurig sein, dass man sterben wollte.“

„Ja, aber warum denn, wenn es einem doch so gut geht?“

„Das war eine Krankheit. Es brauchte dafür nicht unbedingt einen Grund. Meine Krankheit war so ähnlich. Ich hatte immer Angst.“

„Wie schrecklich. Wovor denn?“

„Tja, vor vielen Dingen. Vor Krankheiten, vor engen Räumen, vor zu vielen Menschen, vor Insekten und vor allem vor mir selbst.“

„Tut mir leid, aber das verstehe ich nicht.“

„Nun ja, ich eigentlich auch nicht. Mein Körper hat Sachen mit mir gemacht, die ich nicht beeinflussen konnte: Innere Unruhe, Panik, Kreislaufkollaps, Übelkeit. Alles einfach so, ohne, dass ich es kontrollieren konnte.“

Sie streichelt mir über den Arm. „Das ist furchtbar. So etwas gab es zu unserer Zeit eigentlich nicht.“

„In meiner Zeit hatten viele diese Krankheit. Deswegen ist es jetzt so ein großartiges Gefühl, dass ich mich in mir nicht mehr gefangen fühle. Ich muss nicht mehr gegen negative Gedanken ankämpfen. Ich spüre nur Frieden.“

„Ja, den inneren Frieden finde ich auch schön. Ich muss mir jetzt keine Sorgen mehr um meinen Sohn machen.“

„Das glaube ich dir. Du hast auch kein einfaches Leben gehabt.“

„Einfach war es in der alten Welt wohl für niemanden…“

 

 

„Und dann hat sie mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Es war ein so spannender Vormittag!“, berichte ich aufgeregt meinem Mann. „Morgen bist du dran!“

„Wie meinst du das?“, fragt Ruppert.

„Wir sind morgen bei ihnen zum Essen eingeladen. Simson wird mit seiner Familie auch da sein. Dann könnt ihr Armdrücken machen“, mache ich einen Witz.

„Haha!“

 

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