Jahr 57
Die Wärme auf meinem Gesicht fühlt sich angenehm und weich an. Das helle Licht der Sonne am Morgen ist wie immer ein schönes Gefühl.
Damals wollte ich nicht von der Sonne geweckt werden, weil ich mich im Morgengrauen noch gar nicht ausgeruht gefühlt habe. Im Gegenteil: Als ich 40 war, fühlte ich mich morgens oft wie 60. Der Körper war unbeweglich, der Nacken tat weh und mein Gedanke war: Wie überstehe ich den Tag…
Merkwürdig, dass mir gerade das heute in den Sinn kommt.
Ich drehe mich um und weiß, dass Ruppert schon lange weg ist. Er macht mit seinen Kumpels einen Angelausflug in Alaska. Ist mir viel zu kalt! Da bleibe ich doch gerne zu Hause, in gemäßigteren Klimazonen.
Was liegt heute an? Ich weiß es nicht. Das mag ich so gerne. Damals war Langeweile ein negativ besetztes Wort. Man hat sich oft abgelenkt und wollte oder konnte nicht mit seinen Gedanken allein sein. Außerdem hatte man ein schlechtes Gewissen, wenn man nicht produktiv war. Das Handy war ein ständiger Begleiter. Man musste immer und überall erreichbar sein. Ich bin so froh, dass wir dieses Ding nicht mehr haben. Als wir unsere Smartphones in der alten Welt gelassen hatten, fühlte ich mich regelrecht befreit. Schön, nicht mehr auf neue Nachrichten zu hoffen oder davon genervt zu sein, antworten zu müssen: Ein Teufelskreis!
Ich gehe in unseren Garten und pflücke etwas Obst für`s Frühstück. So kann der Morgen beginnen. Und der Tee aus frischen Kräutern schmeckt heute besonders gut.
Die Kinder und Enkelkinder waren gestern zu Besuch. Also entschließe ich mich für einen Wellnesstag mit mir selbst. Wellness hat heute natürlich eine andere Bedeutung. Wie schön, dass ich nichts mehr gegen Falten unternehmen muss: kein Microneedling, damit die Haut sich wieder angeblich aufpolstert. Auch kein Waxing mehr mit höllischen Schmerzen. Die Haut ist glatt und haarfrei; einfach so. Eine Massage benötige ich auch nicht, aber ein schönes Bad tut immer noch gut. Genau, das gönne ich mir! Beim Betrachten meiner von Natur aus schönen Fingernägel kommt mir eine kreative Idee. Bemalte Nägel gibt es nämlich schon noch, nur schadstofffrei.
Nach dem gemütlichen Vormittag packe ich mir einen Picknickkorb und gehe auf die lange Wiese vor unserem Haus. Es ist ein herrlicher Sommertag mit blauem Himmel und einigen watteweißen Wolken. Ich lege mich, wohlgemerkt ohne Decke (!!!), auf die Wiese. Angst oder Ekel vor Insekten habe ich nicht mehr. Mein Blick nach oben ist im wahrsten Sinne des Wortes himmlisch. Das Blau ist wunderschön. Ich winke nach oben und weiß, dass mich jemand beobachtet. Ob wir demnächst mal wieder von einem unserer Könige bei einem Kongress Besuch kriegen? Ich bin gespannt.
Oh, was ist das? Ein Fuchs mit einer Biene auf der Nase schwebt gerade als Wolke an mir vorbei. Danach döse ich etwas. Vom leichten Kribbeln auf meiner Nase werde ich wach. Eine bestimmte Art von Libelle wollte sich wohl kurz ausruhen. Wie sie heißt, weiß ich nicht, aber ich bewundere wie kunstvoll ihre Flügel im Licht der Sonne schimmern. Einfach fantastisch!
So langsam grummelt mein Magen. Ich packe die Sandwiches heraus und genieße sie in vollen Zügen. Endlich kein schlechtes Gewissen mehr bei Schweinfleisch, Mayonnaise oder Weißbrot. Auch die Rumkugel, die ich mir im Anschluss noch reinziehe, macht mir gar nichts aus. Sie ist schließlich nicht mehr ungesund und geht nicht direkt auf die Hüften. Ich habe eine Topfigur! Ich schlemme gern, aber natürlich in Maßen. Das macht riesigen Spaß. Ich liebe es zu essen, vor allem seitdem das Essen nicht mehr so belastet ist mit allen möglichen Giftstoffen. Vieles schmeckt so viel besser. Wenn ich an das Mc…, na wie hieß das noch…, Mc Burger, neee…. Mc Donalds denke, dann wird mir fast schlecht. Was haben wir uns da mit Freuden angetan und insgeheim gewusst, haben wir es auch. Es war nur noch viel schlimmer als wir gedacht haben... Was da noch später an Lebensmittelskandalen rausgekommen ist…. Naja, aber das gehört der Vergangenheit an.
Trotzdem bin ich froh, dass es noch Fleisch gibt. Ich lag tatsächlich mit meiner Vermutung richtig: Wir schlachten nicht mehr auf Teufel komm raus (ja, auch das im wahrsten Sinne des Wortes) haufenweise Tiere unter den schrecklichsten Umständen. Nein, wenn die Tiere kurz davor sind, ihr glückliches Leben zu beenden, merken wir es ihnen an. Sie werden ruhiger und letzten Endes kippen sie irgendwann um und schlafen ein. Dann haben wir die Erlaubnis, sie zu schlachten. Wir essen also viel weniger Fleisch und es ist etwas Besonderes. Aber wenn es dann so ein schönes Rinderfilet mit rosa Kern gibt, bin ich einfach happy. Dazu mache ich eine Sauce Bernaise und Kartoffelspalten, etwas Brokkoli dazu und fertig! Ach ja, das werde ich mal wieder machen, wenn Ruppi nach Hause kommt.
Nachdem ich so viel über Essen nachgedacht habe, lege ich mich wieder hin. Ich betrachte noch einige Gänseblümchen neben mir und döse erneut. Das Rumpeln des Bodens macht mich wach. Ich setze mich auf und sehe aus der Ferne ein Pferd auf mich zukommen. Ein halbnackter Mann scheint darauf zu sitzen. Wer mag das sein? Als er nur noch wenige Meter vor mir ist, kann ich es erkennen: Er ist ein Indianer mit langem schwarzen Haar und seiner typischen Kleidung. Es gibt noch nicht so viele von ihnen. Vielleicht ist er eben auferstanden und erstmal vor lauter Schock ausgebüxt. Das passiert manchmal. Sie haben keine Angst, aber da alles so ungewohnt ist, reagieren manche so und ergreifen die Flucht. Ich winke wie wild und er reitet trotzdem genau auf mich zu, ohne zu bremsen. Es geht alles ganz schnell und ich sehe das prächtige braune Pferd von unten, weil es über mich herüberspringt. Danach bremst der Indianer doch noch ab. Er kommt langsam auf mich zu und springt vom Pferd. Er starrt mich an und analysiert meine Kleidung. Ich bitte ihn darum, neben mir Platz zu nehmen und wir kommen ins Gespräch. Er erzählt mir, dass er eben noch im Krieg war und einen Pfeil in seiner Brust spürte. Er wurde ohnmächtig und nun ist er in dieser fremden Welt gelandet. Nach meiner Erklärung guckt er mich ungläubig an. Nun kommen auch die anderen vom Begrüßungskommando angeritten.
Ach nee… jetzt wird mir einiges klar: Melissa und José waren eingeteilt. Wir nennen sie „unser Dreamteam“. Die beiden sind so herzlich und witzig, aber immer noch total verpeilt. Manche Charaktereigenschaften ändern sich wohl nicht. Aber ich finde das gut so.
„Wir haben einen Moment nicht aufgepasst und dann war er plötzlich weg!“, entschuldigt sich Melissa. Ich lache in mich hinein.
„Das macht nichts. Das Wichtigste habe ich Akai schon erklärt, nicht wahr?“ Akai, der Indianer nickt schüchtern und geht zu seinem Pferd.
José reicht ihm die Hand und nimmt ihn danach in die Arme. „Willkommen in der neuen Welt! Jehova hat dich auferweckt!“
„Deine Freunde von damals kommen auch gleich. Das sind sie doch, oder!?“ Er zeigt Akai eine Liste mit Namen.
Aus dem schüchternen jungen Mann wird ein aufgeregter, kräftiger Krieger. Er greift nach hinten und bemerkt, dass sein Bogen nicht da ist.
„Oh!“, entfährt es Melissa. „Das waren wohl doch nicht seine Freunde….“ Sie verzieht besorgt ihr Gesicht. „Dann müssen wir noch schnell vorher einiges erklären. Nicht, dass er gleich auf sie losgeht.“ Sie winkt ihm zu und bedeutet ihm, wieder in die Richtung zu gehen, aus der sie gekommen sind.
Einige Kilometer nach Norden liegt eines der vielen Willkommenszentren. Heute scheint mächtig viel los zu sein. Vielleicht backe ich morgen mal einen Kuchen und bringe ihn dort vorbei. Aber heute tue ich nichts mehr. Heute ist schließlich Wellnesstag. Einfach langweilen und gucken, was passiert!