Jahr 950
„Oma, wach auf, wach auf! Wir wollen Lilly besuchen gehen!“
Ich öffne die Augen und drei meiner vielen Ur-Ur-Ur-Enkelkinder (ich habe ehrlich gesagt den Überblick über die Ur`s verloren) hocken auf unserem Bett und starren mich voller Vorfreude an. Ich strecke mich und freue mich wie immer auf den Tag.
„Kannst du unsere Badesachen packen?“ Diesen süßen großen Kulleraugen kann man einfach nicht widerstehen.
„Na gut, wir gehen heute ans Meer. Aber in Ruhe frühstücken darf ich noch, oder!?“
Sie schütteln den Kopf. Wir haben dir schon ein Brot geschmiert. Sie halten es mir voller Stolz vor die Nase und es trieft förmlich nur so von roter Marmelade. Ich sehe den Tropfen in Zeitlupe auf meine weiße Bettwäsche hinabgleiten. Naja, egal, denke ich bei mir. Wie gut das Ruppert eine neuartige Waschmaschine erfunden hat. Er ist ein kluger Kopf. Ich werde die Bettwäsche heute Abend hineinlegen und kann sie nach 5 Minuten schon wieder frischgewaschen herausholen, auch getrocknet wohl gemerkt! Wo ist er eigentlich???
„Wo ist denn Opa?“
„Der arbeitet schon in seiner Werkstatt. Aber er kommt auch mit zu Lilly!“
„Ich kann euch gar nicht versprechen, dass Lilly heute da ist….“, versuche ich sie nicht zu enttäuschen.
„Doch doch! Sie ist morgens immer da und schaut, ob ich sie besuche!“, sagt die jüngste voller Zuversicht.
Am Meer angekommen, bauen Ruppert und ich alles auf und die Kinder laufen direkt zum Meer. Der Strand ist strahlendweiß und warm. Ich liebe dieses Gefühl, über die Dünen zu gehen und das große weite Meer zu entdecken. Auch nach knapp 950 Jahren ist es immer noch wunderschön und wird nie langweilig. Es ist erstaunlich, wie schnell wir uns an dieses vollkommene Leben gewöhnt haben. Alles ist so sauber und „Häh“, was ist denn das??? Ich habe ein komisches Gefühl im Bauch. Ich glaube, man nannte es damals Übelkeit. Ich erinnere mich langsam. „Das kann doch nicht sein! Hier liegt ja Müll an unserem Strand. Ruppert, siehst du das?“
Ruppert geht zu der Stelle auf die ich zeige und schaut sich die drei Sachen genau an. „Naja, Müll im alten Sinne ist es ja nicht.“
Stimmt, Plastik gibt es gar nicht mehr. „Aber was ist es dann?“
„Das ist zerknülltes Papier, ein kaputtes Glas und ein zerrissenes Kleidungsstück. Einfach liegengelassen. Wer macht denn so etwas? Diejenigen sollten sich wirklich schämen.“ Mein lieber Mann räumt die Sachen vorsichtig zusammen und siebt vorsichtshalber nochmal den Sand an der Stelle, damit auch ja keine Scherbe zurückbleibt und sich nachher noch jemand verletzt. Verletzte hatten wir zwar schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr, aber hin und wieder kommt es vor. Sich weh tun, kann man schließlich noch.
„Oma! Oma! Lilly ist da!!!“, schreien unsere Enkel im Chor.
„Ich komme!“ und laufe los. Dann sehe ich sie. Die Flosse ragt aus dem Meer und sie taucht auf.. mit ihrem typischen Grinsegesicht. Ich liebe Delphine und muss an meine Freundin von damals denken. Leider lebt Emma nicht mehr. Aber das macht mich nicht traurig. Ich genieße die schönen Erinnerungen mit ihr.
Die Kinder laufen ins Wasser und lassen sich von Lilly durchs Wasser ziehen.
Der Tag zieht dahin und wir genießen das tolle Wetter. Als die Sonne untergeht, machen wir uns auf den Heimweg. Die Kinder schlafen mir fast im Gehen ein, so müde sind sie vom ganzen Toben mit Lilly. Als wir zu Hause ankommen, habe ich wieder dieses komische Gefühl. Ich gehe ins Wohnzimmer und merke, da stimmt etwas nicht. Nachdem Ruppert die Kinder ins Bett gebracht hat, umarmt er mich von hinten und stoppt sofort in seiner Bewegung. Er hat es auch gesehen.
„Wo ist denn deine Skulptur, die über dem Kamin stand?“ Er meint die Figur, die ich aus Edelsteinen gebaut habe.
„Ich weiß es nicht. Ich verstehe das auch nicht. Meinst du, sie hat jemand gestohlen?“
Ruppert grinst mich an. So als hätte ich etwas Dummes gesagt. „Bestimmt haben die Kinder sie versteckt.“
Plötzlich klopft es an der Tür. Ruppert beugt sich nach hinten und lächelt. „Es ist Chrissi“, sagt er zu mir und winkt ihn herein.
„Hallo Nachbar!“
„Hi! Was gibt es? Wieso hast du Nicole nicht mitgebracht?“
„Heute war viel los! Sie räumt gerade noch mit unseren Söhnen die Baustelle auf. Wir haben nämlich das Haus fertiggebaut. Wenn ihr wollt, könnt ihr morgen beim Tapezieren helfen.“
„Au ja!!!“, rufe ich hocherfreut. Ich liebe das Tapezieren.
„Ich bin immer begeistert, was ihr für neue Ideen habt. Alle 100 Jahre ein neues Haus. Total cool!“, sagt Ruppert.
„Ja, aber deswegen komme ich nicht vorbei. Ich wollte nur wissen, ob bei euch alles ok ist.“
Wir lachen. „Das ist aber eine komische Frage.“
„So witzig ist das leider gar nicht. Bei Hermanns haben sie eingebrochen!“
„Was???“
„Wer sind ‚die‘ und ist Hermanns etwas passiert? Wie kann das sein?“
„Nein, sie haben nur wertvolle Dinge mitgenommen… Wir wissen auch nicht, wer es war. Naja, wir sind im Jahr 950. So langsam fängt es wohl an.“
Da fällt es uns wie Schuppen von den Augen. „Natürlich! Es ist soweit. So langsam trennt sich die Spreu vom Weizen. Da kommen wohl nochmal harte Jahre auf uns zu“, stellt Ruppert fest.
„Ganz genau! Satan wird bald frei gelassen. Wir müssen uns auf mehr Druck einstellen.“
„Deswegen auch der Müll am Strand“, sage ich.
„Ja, und deine Figur ist weg.“
„Also bei euch auch?“, fragt Chrissi.
„Ja, aber das macht nichts. Es ist nur schade, weil du dir so viel Mühe damit gegeben hast.“
„Genau! Ich habe ja nur 133 Jahre nach den Steinen gesucht…! Egal! Ich habe genug Zeit, um wieder welche zu finden. Gut, dass wir nicht zu Hause waren!“, antworte ich erleichtert.
„Und wie geht es jetzt weiter? Haben die Fürsten schon Anweisungen für uns?“, fragt Ruppert.
„Ja, ich denke schon. Wir haben ja morgen sowieso Versammlung. Dann werden wir alles Weitere erfahren.“
Chrissi wendet sich zum Gehen und dreht sich dann nochmal um: „Macht euch keine Sorgen. Die nächste Zeit wird vielleicht nicht leicht, aber Jehova wird uns beschützen. Es wird nur immer deutlicher, dass einige ihm nicht dienen wollen.“
„Das wussten wir auch schon vor dem Paradies, dass es zum Ende der 1000 Jahre nicht einfach wird. Doch irgendwie hat man sich so an das friedliche, sichere Leben gewöhnt… Das ist erstmal alles merkwürdig, wieder mit solch negativen Dingen konfrontiert zu werden. Aber wir schaffen das schon.“ Ruppert legt beschützend den Arm um mich und ich fühle mich gleich sicher. „Richte Nicole liebe Grüße aus! Wir werden morgen da sein!“, rufe ich Chrissi zu.