Jahr 2 Februar
Ich befinde mich nun im 5. Monat und man sieht meinen Bauch. Ich trage ihn stolz umher und freue mich riesig auf unsere Tochter. Woher ich das weiß?
Wir haben uns immer zuerst mit einem Mädchen gesehen, auch damals schon. Und ich bin mir sicher, dass Jehova uns diesen Wunsch erfüllt. Nur noch etwas warten und dann können wir sie zum ersten Mal in den Arm nehmen. Ich möchte mindestens drei Töchter haben. Ihre Namen kenne ich schon lange: Aurelia, Aurora und Arielle. Natürlich freuen wir uns auch über Söhne: So einen kleinen süßen Mini-Ruppert, der mit struwweligem, welligem Haar und einer Latzhose im Garten umherläuft. Ja, das kann ich mir auch gut vorstellen. Aber wie gesagt: zuerst ein Mädchen. Ich gluckse und kann es kaum erwarten. Die Vorfreude ist riesengroß!
Ruppert blättert am Frühstückstisch gemütlich in der Zeitung. Der Name der Zeitung lautet: Zions Nachrichten. Zunächst gab es die Überlegung, neue Informationen elektronisch an alle weiterzuleiten. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass es angenehmer und wirkungsvoller ist, diese vielen guten Nachrichten handfest auf Papier vor Augen zu haben. Wir erfahren zum Beispiel wie weit der Baufortschritt ist und wie viele Menschen es auf der Erde gibt, eingeteilt in die einzelnen Regionen. So etwas wie Länderbezeichnungen gibt es nicht mehr, weil alle Grenzen beseitigt wurden. Wir sind eine Menschheit, ein Volk. Die Auferstehungsanzeigen mag ich am liebsten. Und da unterbricht mich Ruppert schon in meinen Gedanken.
„Eva, schau dir das an!“, ruft er aufgeregt. Ich blicke ahnungslos auf den Artikel mit der Kobra und dem dreijährigen Philipp.
„Nein, die linke Seite!“, sagt Ruppert.
Und da ist sie: die lang ersehnte Anzeige:
Mein Papa Carlos, gestorben am 18.2.1993, wird auferstehen am 18.2.0002. Danach folgen Angaben zum Willkommenszentrum und Uhrzeit. Mir kommen sofort die Tränen und ich kann es gar nicht glauben. Die Auferstehung von André war schon wunderschön. Aber das jetzt? Wie lange habe ich mir diesen Moment vorgestellt… Ich bin jetzt schon richtig aufgeregt.
„Meinst du, er wird mich erkennen?“, frage ich Ruppert schluchzend, während er mich im Arm hält.
„Nun ja, du warst ein Kind als dein Papa gestorben ist. Jetzt bist du älter als er.“ Er überlegt gespielt angestrengt. „Gut, deine Falten und die grauen Strähnen sind mittlerweile wieder weg, aber bei einer Sache sehe ich schwarz: dein Bauch! Er wird denken, du hast etwas zugelegt!“
Ja, das ist seine Art mich aufzuheitern. Ich kneife ihn und streichle behutsam über meinen Bauch.
Was mein Papa wohl dazu sagen wird? Er wacht auf in einer fremden Welt, seine Kinder sind plötzlich erwachsen und er erfährt in einem Atemzug, dass er Opa wird. Das wird sicherlich nicht leicht für ihn. Ganz schön viele Veränderungen! Für ihn ist nur eine Nacht vergangen. Wie fühlt sich das an? Ich habe Mitleid mit meinem Vater, andererseits weiß ich, dass Jehova es für ihn schön machen wird. Mein Papa wird nicht leiden, noch traurig sein. Dann fällt mir noch etwas ein:
„Ruppert, dann ist mein Papa ja bei unserer silbernen Hochzeit dabei!“ Ich hüpfe vor Freude. Damals hatte ich angenommen und gehofft, dass er beim 10. Hochzeitstag schon dabei ist. Dann kam der 15. und der 20. und wir waren immer noch nicht im Paradies. Und dann ging alles ganz schnell. Tja, und jetzt bin ich hier und es geht ein Wunsch nach dem anderen in Erfüllung. Ich muss mich erstmal setzen! In Gedanken bete ich zu Jehova und bedanke mich. Das ist mein Gott! Er hält, was er verspricht und macht alles besser, als man es sich erträumt hat.
„Wobei ich ja schon gehofft hätte, Papa meine tolle Figur zu zeigen. Schließlich hat er als ich Kind war immer mit mir vor anderen angegeben. Naja, der stolze Papa eben. Von meinen langen Beinen war immer die Rede.“ Ich muss lachen. Groß bin ich nie geworden, aber das stört mich nicht.
„Du bist die schönste Frau auf der ganzen Welt, auch mit Bauch! Das ist das besondere Etwas! Damit siehst du bezaubernd aus, mein Schatz!“
Und dann muss er schlucken: „Meinst du, er wird mich mögen?“
„Na sicher! Du hast dich so gut um meine Mama gekümmert und bist der beste Mann, den es gibt! Außerdem hat er gar keine Wahl!“
Die Tage vergehen und wir treffen sämtliche Vorbereitungen. Wir hatten uns alle noch am selben Tag bei Mama getroffen und überlegt, wie wir Papa in Empfang nehmen wollen. Mittlerweile bin ich im 6. Monat. Ich trage ein fliederfarbenes Blumenkleid und einen üppigen Blumenkranz im Haar. Mit meiner braunen Haut sehe ich frisch und gesund aus. Das bin ich natürlich auch. Mamas Garten und die Terrasse sind ein Meer aus Blumen und Luftballons. Es passt alles farblich gut zusammen und ich bin stolz auf mein kleines Dekoprojekt. Meine anderen Geschwister haben gekocht und gebacken. Es sind lauter arabische Rezepte, damit sich Papa gleich noch wohler fühlt. Plötzlich erklingt ein lauter Pfeifton. Elias kommt angerannt. „Sie kommen! Nur noch 500m entfernt. Ist alles fertig?“
Wir hatten vorab beschlossen, dass Mama ihn allein vom Willkommenszentrum abholt. So haben die beiden erstmal Zeit, sich wieder neu kennenzulernen und es stürmen nicht alle auf ihn ein. Außerdem kann Mama ihn darauf vorbereiten, dass alle seine Kinder mittlerweile erwachsen sind.
Ich laufe zum großen Gartentor und sehe die beiden lachend auf uns zukommen. Papa legt den Arm um sie. Mir kommen die Tränen vor Glück. Mist, ich will doch nicht verheult aussehen, wenn er mich das erste Mal sieht. Ich reiße mich zusammen und die anderen kommen auch angelaufen. Ruppert stellt sich hinter mich und tritt von einem Fuß auf den anderen. Er scheint nervös zu sein. Wie süß!
Papa hat seinen typischen Gang. Mir wird erst jetzt bewusst, wie sehr ich ihn vermisst habe. Und dann höre ich von weitem seine Stimme. Daran konnte ich mich kaum noch erinnern…
Und dann kommt Papa auf mich zu und weiß sofort, dass ich seine erste Tochter bin. Er betrachtet mich still von oben bis unten und bleibt an meinem Bauch hängen.
„Tja, du wirst jetzt schon Opa!“, sage ich und er nimmt mich sofort in die Arme. Und jetzt merke ich, dass eine Wunde, die ganz tief in mir drinsteckte, plötzlich heilt. Ich fühle mich wieder ganz. Es ist alles in Ordnung. Es ist alles wieder gut.
„Meine Eva!“, sagt er nur und gibt mir ein Küsschen auf die Stirn. „Deine Mutter hat mir erzählt, wie stark du warst. Ich bin so stolz auf dich!“
Bei meinem Bruder läuft es ähnlich ab, doch bei Lydia kommt er aus dem Staunen nicht heraus. „Du hast ja die blauen Augen deiner Mutter!“ Er freut sich riesig und umarmt sie ebenfalls. Lydia hat ihren Vater nie richtig kennengelernt. Doch ich sehe ihr sofort an, welche Liebe sie automatisch für ihren Vater empfindet. Solche Familienbande kann selbst der Tod nicht trennen und ich freue mich von Herzen für sie, dass er kein Fremder für sie ist. Auch das muss ein Wunder Jehovas sein.
Danach stellen wir ihm Hanna vor und auch sie kriegt ein Küsschen. Dann schaut er Mama an und fängt schelmisch an zu kichern. Er kennt Hannas Papa noch von damals und kann sich gut an ihn erinnern. „Ja, ja!“, sagt Mama und zuckt mit den Schultern.
„Papa, ich möchte dir meinen Mann vorstellen. Das ist Ruppert“, sage ich. Ruppert tritt nach vorne und nimmt ihn in den Arm. „Ich freue mich, dich kennenzulernen.“
„Maren hat mir schon erzählt, dass ich mich bei dir bedanken muss. Du hast hier alles zusammengehalten. Danke mein Sohn!“, sagt Papa. „Groß bist du!“ schiebt er noch hinterher.
Nachdem alle weiteren Schwiegerkinder vorgestellt und begutachtet wurden, gehen wir durch den langen Garten und auf die Terrasse. Wie bei André haben wir eine lange Tafel aufgebaut. Der Tisch ist übersät mit vielen kleinen Schälchen voller Köstlichkeiten. Das arabische Brot wird herumgereicht und wir essen und erzählen bis spät in die Nacht. Es wird gelacht und geweint und wir zeigen Papa Fotos von unseren Hochzeiten. Die hat er leider alle verpasst. Aber dann eröffne ich ihm, dass wir in wenigen Monaten wieder groß feiern: unsere silberne Hochzeit steht an. Ich wünsche mir, dass er mich dieses Mal begleitet, wenn ich in meinem weiß-silbernen Kleid auf Ruppert zugehe. Wir haben es so geplant, dass alle Gäste in unserem Garten wie bei einer Hochzeit bereits auf den Stühlen sitzen und Ruppert vorne vor einem Bogen aus Blumen auf mich wartet. Dann erfolgt eine kleine Ansprache und einige Worte aus der neuen Bibel. Wir geben uns einen Kuss und sind glücklich, dass wir die Ewigkeit miteinander verbringen dürfen. Danach wird gefeiert! „Es wäre mir eine Ehre!“, antwortet Papa und ich bin überglücklich.
„Und vielleicht steht ja bald noch eine weitere Hochzeit an!“, schiebt er hinterher und zwinkert meiner Mama zu. Sie wird rot und kichert.