Oma Renate
Heute ist ein außergewöhnlicher Tag und ich kann es kaum erwarten. Wie ein kleines Kind habe ich vor lauter Aufregung nicht viel geschlafen.
Immerhin habe ich mich gut darauf vorbereitet: ich habe die letzten Wochen immer wieder ein bestimmtes Gericht gekocht und geübt, damit es den Ansprüchen unserer Oma genügt. Sie hat das immer gemacht, wenn die ganze Familie zusammenkam.
Ich sehe das Essen heute noch vor mir, obwohl es schon Jahrzehnte her ist. Allein diese riesigen Töpfe… Bratkartoffeln, einen großen Pott Grünkohl mit Zucker verfeinert, vor Fett spritzende Kohlwürste und Kassler. Sooo lecker!
Heute muss so etwas Besonderes auf den Tisch, weil wir Oma nach so langer Zeit wiedersehen. Sie ist nicht einfach nur eine Oma, sondern die beste, die es auf der ganzen Welt gibt. Eine coole Oma mit ihrem eigenen Style: Fingernägel stets lackiert, schwarze Leggins mit Schlaufe um den Fuß und ein schickes Oberteil. Die obligatorische Zigarette wird sie jetzt nicht mehr zwischen den Fingern halten…
Ihr Lachen habe ich heute noch im Ohr und es bereitete mir stets gute Laune, wenn ich daran gedacht und sie vermisst habe.
Meine Oma hatte nie viel und hat stets viel gegeben. Vielleicht kam daher ihr Spruch, den ich mir zeit meines Lebens gemerkt habe: „Man muss nehmen, was man kriegen kann.“
Ruppert hat von seiner Oma noch die Weisheit im Kopf: „Abends werden die Faulen fleißig.“ Den bekam ich dann so manches Mal zu hören. Unverschämt!
Für welchen Spruch wäre ich wohl bekannt gewesen, wenn ich im alten System gestorben wäre? „Der Fisch stinkt vom Kopf“? Stimmt zwar, ist aber als Lebensweisheit nicht so berauschend. Vielleicht fällt mir noch was Besseres ein…
Gerne denke ich daran zurück wie Oma und ich circa 10 Stunden vor der Halle angestanden haben, um einen der vorderen Plätze beim Kelly Family – Konzert zu ergattern. Wer macht so etwas??? Meine Oma!
Ich habe heute noch ein schlechtes Gewissen, weil sie mit dem Sicherheitspersonal diskutiert hat, damit ich hinter die erste Absperrung vor der Bühne darf; nur sie wurde leider nicht reingelassen. Und anstatt das Konzert mit ihr zusammen zu genießen, stand ich lieber allein vor der Bühne. Ganz sicher werde ich mich dafür bei ihr entschuldigen. Auch das erträgt nur eine liebende, selbstaufopfernde Oma!
Allein deswegen werde ich mir schon ganz viel Mühe beim Kochen geben.
Einige Stunden später ist es dann so weit. Das Essen ist fast fertig und wir alle warten auf Mama und Onkel Volker, die Oma abholen und dann zur Willkommensfeier bringen. Es ist Winter, also feiern wir in unserem großen Wintergarten mit Blick auf den Teich und die mit Eiskristallen verzierte japanische Brücke, die darüber führt.
Der Kamin wurde eben von Ruppert mit Holz befüllt und eine angenehme Wärme verteilt sich im Raum.
Die lange Tafel ist mit einer grünen Farnranke und Omas Lieblingsblumen geschmückt: Nelken in Rosa, Rot, Creme und Weiß. Und dann klopft es an der Tür. Plötzlich sind wir alle ganz still und können unser Glück nicht fassen. Oma Renate ist auferstanden und endlich wieder da. Wird sie mich noch erkennen? Was sagt sie zu meinem Mann?
Und dann schließen wir sie alle nacheinander in die Arme, die Freudentränen fließen. André bietet Oma den Platz in der Mitte an, den wir besonders geschmückt haben.
Ruppert und ich holen aus der Küche die großen Töpfe und verteilen das Essen. Ich beobachte Oma bei ihrem ersten Bissen und sie nickt anerkennend. Was bin ich erleichtert!
Die Zeit vergeht, weil Oma sich alles erzählen lässt, was sie verpasst hat. Wir spielen noch einige Runden Karten und genießen den Abend. Die Sonne ist bereits untergegangen und Ruppert geht zum Briefkasten, weil er sich noch gar nicht um die Post kümmern konnte. Er gibt mir einen Brief von einer weit entfernten Freundin, die sich gerade in Brasilien befindet. Er legt auch die Zeitung hin und Onkel Volker blättert nebenbei darin. Plötzlich schlägt er mit der flachen Hand auf den Tisch. Wir erschrecken uns alle und starren ihn an.
„Was ist denn los, Volker?“, fragen Mama und Tante Sabine gleichzeitig.
Er schüttelt den Kopf. „Ich habe die Auferstehungsanzeige gesehen.“
„Ja und?“, sage ich. „Oma ist doch schon da!“
„Ne, die war in der alten Zeitung. Das ist die neue. Ihr werdet es nicht glauben!“ Und dann hält er die Seite für uns alle sichtbar hoch:
„JS kommt wieder!“, erklärt er mit blassem Gesicht!
JS sind die Initialen meines Opas, der Ex-Mann meiner Oma. Die Verwendung seiner Anfangsbuchstaben statt des Wortes "Vater" oder "Papa" hat hier definitiv einen Grund und leider seine Berechtigung... Außerdem hat er die Wahrheit nie angenommen und war, wie soll ich es ausdrücken..., sehr speziell. Wir haben alle ehrlich nicht damit gerechnet, dass er wiederkommt.
Die erste, die anfängt zu lachen, ist meine Oma! Und da ist es wieder: Ihr mitreißendes Lachen, dass einzigartig ist. Also bleibt uns nichts Anderes übrig als mit den Schultern zu zucken und es zu akzeptieren. Nur Jehova kann ins Herz schauen und er weiß, was für ein toller Mensch mein Opa werden kann und so sehen wir das dann jetzt auch!