skopéō

Tag 1

Tag 1

Ich werde von einem lauten Klang wach. Es hört sich an wie eine Posaune, jedoch noch wesentlich gewaltiger und pompöser. So etwas habe ich noch nie gehört. Die anderen Brüder und Schwestern setzen sich auch allmählich auf und lauschen dem Geräusch.

Plötzlich öffnen sich die Wolken und ein helles Licht erscheint. Eine Heerschar von Engeln wird sichtbar. Das, was wir gestern an Zeichen am Himmel gesehen haben, ist nichts gegen das hier. Ich kann es kaum beschreiben… dieses Leuchten, diese vielen Engel, jeder sieht anders aus. So eine Pracht und Herrlichkeit… Ich weiß nicht, was ich sagen soll und den anderen scheint es genauso zu ergehen.

Ein Engel, der über all den anderen steht und besonders heraussticht, kommt nun näher und schwebt auf der Höhe eines Heißluftballons am Himmel. Der erste, der zuerst etwas sagt, ist der kleine Junge von gestern. Er zeigt nach oben und ruft: „Mama, Jesus!“ Und da wird mir alles klar. Wir dürfen Jesus sehen! Ich hatte immer eine bestimmte Vorstellung von Jesus, aber die wurde ihm nicht gerecht, wie ich jetzt erkenne. Noch nie habe ich so eine Liebe und Wärme in einem Gesichtsausdruck gesehen. Allein dieser Blick vermittelt mir ein so starkes Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit, Frieden und Liebe natürlich. Ich bin so gerührt, dass ich schon wieder weinen könnte. Doch dann fängt er an zu sprechen:
„Heilig, heilig, heilig ist Jehova. Ihm gebührt der Dank, denn der Allmächtige hat euch befreit. Preist euren und unseren Gott mit Liedern! Der Krieg ist vorbei, Jehova hat euch gerettet! Jubelt und freut euch!
Wundert euch nicht: Ich werde euch an einen Ort bringen, um sein Volk zusammenzuführen. Ihr alle sollt feiern und euch freuen, einen Monat lang. Lernt eure Brüder und Schwestern der ganzen Erde kennen und feiert als EIN Volk. Denn euer Gott wünscht sich ein Fest zur Ehre seines Namens. Denn er hält, was er verspricht. Darum esst, trinkt, singt und tanzt für Jehova, unseren Gott!“

Wir alle blicken ehrfürchtig nach oben als Jesus wieder verschwindet und der Himmel sich langsam schließt. Wieder nehmen wir uns alle in den Arm und gucken uns plötzlich erstaunt um. Wir befinden uns nicht mehr auf dem Berg in unserer Stadt, sondern auf einem weiten Feld. Ich kann nicht mal Berge oder etwas Anderes in weiter Ferne erkennen. Es ist eine wunderschöne, riesige Wiese mit vielen Blumen und einigen Bäumen, die voller Früchte sind und Schatten spenden. Nach und nach werden wir immer mehr. Anscheinend bringen die Engel Versammlung für Versammlung hier hin und die Wiese füllt sich. Wir sind ein bunter Haufen, denke ich. Ich entdecke Brüder aus Südamerika, Asien und Afrika. Ganz weit hinten kommen mir zwei Brüder bekannt vor. Wir alle kennen die beiden vom Broadcasting der letzten Monate. Sie waren Helfer der Leitenden Körperschaft und haben uns, nachdem alle in den Himmel aufgefahren sind, durch die letzten Monate geführt.
Das ist alles so aufregend!, denke ich und fasse mir an die Stirn. Sie fühlt sich anders an. „Meine Denkerfalte ist weg!“, rufe ich voller Freude meinem Mann zu. Ich kann mein Glück kaum fassen. „Zeig mal her!“, sagt er ganz nüchtern. Er beugt sich über mein Gesicht, doch ich springe schon euphorisch auf und ab. „Meinst du, es geht schon los???“, frage ich aufgeregt wie ein kleines Kind. Langsam stecke ich ihn an. Er kehrt mir den Rücken zu, nimmt heimlich seine Brille ab und guckt prüfend in die Ferne. Augenblicklich dreht er sich zu mir um, lässt seine Brille fallen und springt darauf und zertritt das olle Ding. Wir nehmen uns in die Arme und ich tue es ihm gleich. Weg mit der Brille!

Die alte Schwester aus unserer Versammlung war uns etwas voraus und hat schon einen ganzen Haufen daliegen: Brille, Gebiss, Gehstock, Hörgeräte. Sie hat zwar noch Falten, sieht jedoch schon wesentlich frischer aus. Es ist herzergreifend zu sehen, wie sie ihre ebenfalls alte Freundin an der Hand hält und sie beide gemeinsam auf ihre Überbleibsel aus der alten Welt springen und sie ein für alle Mal zerstören. Sie werden den Kram nie wieder brauchen.

Ich höre derweil in meinen Körper hinein und spüre wie ich gerade werde und mich strecke. Ich komme mir sogar etwas größer vor. Wahrscheinlich wird gerade meine Skoliose repariert, denke ich. Schon wieder fällt mir nur ein „Wow“ ein. Natürlich gibt es noch viele weitere Baustellen an und in meinem Körper, aber ich verlasse mich darauf, dass auch diese nach und nach behoben werden.

 

Es war noch nie schöner, andere Menschen zu beobachten. Um uns herum sind alle glücklich. Einige junge Brüder machen sich schon daran, die Prothesen, Rollstühle, Gehstöcke und so weiter zu sammeln und auf einen riesigen Haufen zu legen.

Macht ja auch Sinn, denke ich so bei mir. Wie sollen wir denn sonst alle vereint feiern, wenn die Älteren und Kranken sich kaum bewegen können. Die sollen auch jubeln und feiern. Wie schön von Jehova, dass er ihnen das schon jetzt ermöglicht.
Wir alle dachten immer, dass das Jung-Werden viel langsamer vonstattengeht. Aber macht ja gar keinen Sinn. Gut, die Falten und so, dass dauert vielleicht seine Zeit. Hauptsache die Beweglichkeit ist wieder da und keiner hat mehr Schmerzen.

„Sie sind endlich da!“, sagt mein Mann ganz aufgeregt und läuft los. Es dauert ein paar Sekunden und dann sehe ich sie auch aus der Menge auf uns zukommen. Mein Herz macht einen kleinen Sprung. Es sind seine Eltern, die wir schon sehr vermisst haben. Während der letzten Monate hatten wir kaum Kontakt, weil sie weiter wegwohnen und es nicht möglich war, sie zu besuchen. Es ist so ein schönes Gefühl, sie nach dieser langen Zeit wieder in die Arme schließen zu können. Auch sein Bruder und seine Frau kommen auf uns zu und nein, das gibt es doch nicht!?!, und seine Tante. Wir gucken uns irritiert an. Tatsächlich, sie ist es! Ehrlich gesagt, haben wir nie damit gerechnet, dass sie überleben wird, denn sie hat sich nie für Jehova entschieden.

„Tja, besser spät als nie“, sagt sie etwas beschämt und zuckt mit den Schultern. Meine Schwiegereltern erklären uns, dass sie sich nach dem Sturz Babylons auf Jehovas Seite gestellt hat. Sie hatte kaum Zeit, ihr Bibelstudium zu beenden, dennoch hat das Wenige ausgereicht, selbst beim Angriff Gogs standhaft zu bleiben. Wie barmherzig und gnädig das von Jehova ist, ihr diese Chance zu geben. Wir freuen uns sehr!

Es war ja schon eine große Erleichterung, dass mein Onkel sich am Anfang der großen Drangsal hat taufen lassen… Wir können uns wirklich glücklich schätzen, dass so viele aus unserer Familie Jehova lieben gelernt haben. Andere sind die Einzigen aus ihrer Familie und dennoch sehe ich sie hier voller Glück jubeln und tanzen. Jehova lässt eben nicht zu, dass auch nur ein Einziger traurig ist. Was für einen großartigen Gott wir haben!

Mir fällt jetzt erst auf, dass sich alle miteinander unterhalten können. Ich gehe zu der farbigen Schwester mit dem farbenfrohen Kleid einige Meter neben mir. Sie hat ein so süßes Baby auf dem Arm. Während wir uns unterhalten, erzählt sie mir, dass sie aus Äthiopien stammt. Wir können trotz der Sprachbarriere ganz problemlos kommunizieren. Eigentlich spricht sie Amharisch: Kann ich natürlich nicht und sie kann kein Deutsch. Trotzdem funktioniert es. Als ich sie bitte einige Worte auf Amharisch zu sagen, verstehe ich sie tatsächlich nicht. Wir stellen fest, dass wir beide unsere Sprache sprechen können, aber auch eine weitere Sprache haben, die wir beide verstehen bzw. mit der wir uns mit jedem hier unterhalten können. Das ist cool! So bleibt vielleicht zunächst die Kultur der einzelnen Völker erhalten. Das finde ich großartig, denn jede Nation hat ihre tollen Eigenarten, von denen man sich eine Menge abgucken kann: seien es Eigenschaften, das Essen, die Kleidung und vieles mehr.


Ich schaue in die Menschenmasse, kann jedoch kein Ende erkennen. Zum Glück machen mir so viele Menschen jetzt nichts mehr aus. Keine Platzangst mehr und auch die Lautstärke stresst mich nicht. Mein Mann, der um einiges größer ist als die meisten, sieht wesentlich mehr. Ich frage ihn wie viele wir wohl sind und er stellt die Vermutung auf, dass Jehova tatsächlich sein gesamtes Volk hier versammelt hat. Ich klettere auf einen der Bäume, weil ich so neugierig bin. Dass ich überhaupt darauf komme, ist schon toll. Ich fühle mich fitter als je zuvor. Und das an Tag 1 im Paradies!!!
Ich blicke auf tausende Versammlungen. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Menschen gesehen. Vierzigtausend in einem Stadion bei einem großen Kongress, aber circa 10 Millionen Menschen? Das ist wirklich unbeschreiblich!

Nach einiger Zeit ertönt wieder eine von diesen übermenschlichen Posaunen. Höchstwahrscheinlich sind nun alle angekommen und wir erhalten weitere Anweisungen, wie unser Fest ablaufen soll. Wir würden Jehova so gern unsere Dankbarkeit zeigen. Welches Lied singen wir wohl zuerst?

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