Tag 30
Unser Globalkongress ist nun zu Ende… Die letzten Tage waren ziemlich ergreifend. Wir haben gehört, wie die Brüder aus anderen Ländern auf Jehova vertraut haben. Es ist unfassbar, was manche während der großen Drangsal durchmachen mussten. Besonders berührt hat mich das junge Mädchen aus Khao Lak, Thailand, deren gesamte Familie nicht in der Wahrheit war. Sie waren ihr gegenüber zwar nicht feindselig, jedoch kam irgendwann der Tag mit der Anweisung, sich mit den Brüdern aus der Versammlung zu treffen und diese Welt endgültig hinter sich zu lassen. Sie schilderte diesen herzzerreißenden Moment, als sie ihre Mutter und ihren Vater in die Arme nahm und sich verabschiedete, in dem Bewusstsein, sie nie, wirklich nie, wiederzusehen. Wie fest ihre Bindung zu Jehova schon mit ihren 16 Jahren war. Zufällig bin ich ihr später über den Weg gelaufen und habe sie erstmal ganz fest in die Arme genommen. Sie war überhaupt nicht traurig und versicherte mir, dass sie sich jetzt keineswegs einsam fühlte. Nur dieser Moment des Auf-nimmer-Wiedersehens hat ihr viel Kummer bereitet. Und zu ihrer Überraschung hat sich nach dem Interview eine weit entfernte Cousine von ihr gemeldet, die gar nicht wusste, dass sie eine Zeugin Jehovas geworden war. Das hat mich unheimlich für sie gefreut.
Herausragend war auch die Geschichte von Fatima aus Saudi Arabien. Sie kannte Zeugen Jehovas nicht. Als Harmagedon ausbrach, wusste sie erst gar nicht, was das zu bedeuten hatte. Doch dann hat Jehova unmissverständlich klar gemacht, dass es ihn gibt und was dieser Krieg nun bedeutet. Sie berichtete, dass sie schon immer Gott kennenlernen wollte, es ihr jedoch mit der vorherrschenden Religion nicht gelang. Als sie nun vor einem Monat die Zeichen am Himmel sah, hatte sie keine Angst, sondern freute sich, die Macht ihres Schöpfers sehen zu dürfen. Plötzlich ergriff ein Engel ihre Hand und brachte sie an einen sicheren Ort, wo viele andere, ihr fremde Menschen, geduldig warteten und Jehova anbeteten. Eine ältere Glaubensschwester sprach sie an und erklärte ihr umgehend, was das alles zu bedeuten hatte. Jehova wollte sie nicht mit all den anderen vernichten, sondern hatte jedes einzelne Herz geprüft und ihres für gut befunden. Sie war überglücklich und zutiefst dankbar.
Witzig war die Geschichte von dem älteren Bruder Alejandro aus Kolumbien. Er wohnte sehr abgelegen und konnte kaum noch laufen. Leider konnte ihm bei der großen Flucht kein Bruder behilflich sein. Alejandro wusste zunächst nicht wie er den Treffpunkt erreichen sollte. Sein Rollstuhl war noch bei einem Handwerker im Dorf in der Reparatur und einen Gehwagen besaß er nicht. Das Einzige, was ihm dank Jehova einfiel, war sein Esel Loco. Übrigens lautete sein Name nicht ohne Grund Loco, denn dieser Esel hörte eigentlich nie auf seinen Besitzer. Er tat all die Jahre immer genau das Gegenteil. Alejandro war sich jedoch sicher, dass Jehova ihn nicht im Stich lassen würde, also humpelte er zu dem Baum, an dem Loco angebunden war. Sobald Loco ihn sah, legte er sich auf den Boden, sodass Alejandro sich nur noch auf ihn draufsetzen musste. Alejandro traute seinen Augen kaum. Da wurde plötzlich ein Engel neben dem Esel sichtbar, der Loco behutsam über den Kopf streichelte. „Ich habe mit Eseln etwas Erfahrung“, sagte der Engel mit einem Augenzwinkern. „Dieses Mal bin ich jedoch nicht gekommen, um mich jemandem in den Weg zu stellen.“ Schlagartig fiel Alejandro die Geschichte von Bileam und dem Esel ein und er musste grinsen. „Hab keine Angst, er wird dich sicher an dein Ziel bringen. Der Tag deiner Befreiung ist da!“ Alejandro nickte dem Engel ehrfurchtsvoll zu und bedankte sich. Dieser verrückte Esel wurde nun von einem mächtigen Engel geführt. Wie froh Alejandro war, Loco nicht schon längst verkauft zu haben….
Da war auch noch Michelle. Sie arbeitete als persönliche Assistentin für den französischen Präsidenten, hatte jedoch mit ihrer leiblichen Schwester bereits ein Studium begonnen. Während der großen Drangsal befand sie sich aufgrund der herrschenden Unruhen in einem Luftschutzbunker tief unter der Erde. Das bedeutete keinen Kontakt zur Außenwelt. Nur der Präsident und sein Stab hatten Telefone und andere Kommunikationsmittel. Michelle erzählte, dass sie überglücklich war, als sie hörte, dass nun alle Religionen vernichtet worden waren. Doch eines Tages ging sie an dem Büro des Präsidenten vorbei und bekam zufällig mit, wie ein globaler Angriff gegen Gottes Volk geplant wurde. Sie erinnerte sich an ihr Bibelstudium und wollte Jehovas Volk warnen. Doch wie sollte das gehen ohne Smartphone oder sonstige Elektronik. Es war nur hochrangigen Mitgliedern der Regierung gestattet, ein Telefon zu besitzen. Sie ging in ihr Zimmer, dass sie sich mit zwei anderen Mitarbeiterinnen teilte und betete heimlich im Badezimmer um Jehovas Anleitung. Sie packte alle ihre Ersparnisse unter ihren Pullover und ging zum Tor des Bunkers. Normalerweise waren dort vier Soldaten stationiert, die niemanden herauslassen durften. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch nur Pierre da. Sie kannte Pierre aus ihrer Schulzeit und das war ihr großes Glück. Sie bot ihm ihr gesamtes Geld an, damit er sie im Gegenzug heimlich gehen lassen würde. Anstatt sie zu erschießen, war Pierre sofort einverstanden und ließ sie ziehen. Michelle wandte sich sofort an ihre Schwester, diese informierte umgehend das Zweigbüro und so konnten weltweit Vorkehrungen getroffen werden, um die Brüder zu informieren, dass der Angriff Gogs bald bevorstand.
Zuletzt möchte ich von den mutigen Ältesten in aller Welt berichten. Ich erinnere mich noch genau an den Tag als wir mit unserer Predigtdienstgruppe im Keller ausgeharrt haben. Die letzten Wochen waren grauenvoll. Wir hatten keine richtige Toilette und mit so vielen Menschen in einem feuchten Keller zu hocken, war ein Albtraum. Nach anfänglichen Querelen haben wir uns zwar zusammengerauft und auf das Wohl des Anderen geachtet. Leicht war es trotzdem nicht. Dass das irgendwann sogar halbwegs gut funktioniert hat, ist für mich noch ein kleines Wunder. Schließlich war ich in der ersten Woche kurz davor einer sehr lauten und aufbrausenden Schwester ein dickes Panzertape auf den Mund zu kleben. Mein Mann konnte mich gerade noch davon abhalten. Vielleicht war auch der Hunger schuld. Nun ja, ich hatte noch viel zu lernen…
Die Ältesten haben sich immer abwechselnd herausgeschlichen und unser sicheres Versteck verlassen, um Nahrungsmittel aufzutreiben. Wenn das geheime Klopfzeichen an der Tür ertönte, wussten wir, sie sind wieder heile angekommen. Als die Brüder draußen waren, haben wir Schwestern uns abgewechselt und über stärkende Bibeltexte mit der Gruppe gesprochen. Das war eine gute Ablenkung, während wir gewartet haben. Am letzten Tag im Keller hörten wir plötzlich laute Geräusche von draußen. „Zugriff!“, rief ein Mann mit einer wütenden Stimme. Dann gab es einen ohrenbetäubenden Knall und im Stockwerk über uns vernahmen wir Schüsse. Es musste sich um ein Sondereinsatzkommando von gefühlt 50 Polizisten handeln, die nun das Haus stürmten. Ein Baby in der Wohnung über uns schrie nun unaufhörlich. Das waren alles keine Glaubensbrüder. Trotzdem erschütterte uns das Leid in Mark und Bein. „In den Keller!“, rief der Kommandant und wir alle zuckten zusammen. Unsere Ältesten sprachen mit uns ein schnelles Gebet und baten uns inständig nun still zu sein. Sie stellten sich vor uns, mein Mann direkt vor mir. Ich hatte solche Angst, doch er stand mit erhobenem Haupt da. So mutig und stark habe ich ihn noch nie gesehen.
Die Tür sprang mit einem lauten Knall aus den Angeln und flog zu Boden. Keiner von uns traute sich auch nur zu atmen. Die mit Sturmgewehren bewaffneten Polizisten spähten in unseren kleinen Keller hinein und schauten uns direkt an. Ich dachte, ok, das war`s jetzt... Anscheinend sterbe ich doch noch in der großen Drangsal. Doch dann zogen sie wieder ab. Jehova hatte sie alle blind gemacht! Wir konnten es kaum glauben und waren überglücklich.
Habe ich schon erwähnt, dass dieser Tag der Rettung auf den 14. Nisan fiel? Jehova ist der größte Mathematiker und er scheint ein Faible für wiederkehrende Daten und Zahlen zu haben…
Auf alle Fälle bin ich froh, dass wir durch reife Männer so gut beschützt wurden.
„Morgen legen wir den Grundstein für unser Haus!“, reißt mein lieber Mann mich aus meinen Gedanken.
„Ja, ich bin total aufgeregt. Meinst du, wir kriegen das hin?“, entgegne ich. „Du hast noch nie ein Haus gebaut!“
Mein Mann muss schlucken. „Nun ja, ich vermute mal nicht, dass wir da die Einzigen sind. Schließlich sind nicht alle Zeugen Jehovas Tischler oder Bauunternehmer. Jehova wird schon machen, dass es klappt. Vom Dach fallen werde ich wohl auch nicht!“, sagt er mit einem Grinsen.
Ich zucke mit den Achseln. „Stimmt, daran muss ich mich noch gewöhnen, dass nichts Schlimmes mehr passieren kann“, sage ich und sehe schon unser Traumhaus vor mir.