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Tante Rose

Tante Rose

„Claudia, wir müssen uns beeilen. Haben die Kinder alles vorbereitet?“

„Ja, sicher. Alles ist fertig. Und wo ist das Geschenk? Darum wolltest du dich doch kümmern, Lydia!“, erwidert Claudia.

„Keine Sorge, es steht alles bereit. Dann lass uns los... Ich traue mich gar nicht dahin. Was denkst du, wie sie reagiert?“

„Überrascht und freudig! Was sonst!“

„Ja, du hast Recht, Claudia...“

Die beiden Schwestern machen sich auf den Weg zu dem Ort, der ihnen in der Zeitungsannonce genannt wurde. Sie gehen zu einem der vielen Zentren, die vorübergehend auf der Erde existieren. Irgendwann werden sie wieder abgebaut oder anderweitig genutzt. Vielleicht als eine Art Dorfgemeinschaftshaus? Keine Ahnung. Auf alle Fälle sind diese Gebäude groß und hell, mit warmen Farben eingerichtet. Es gibt keine Wände, denn das Wetter ist fast immer gut und die frische Luft, die hindurchströmt, vermittelt ein Gefühl von Befreiung. Befreiung im doppelten Sinn. Nicht nur, weil man nicht durch Wände eingeengt ist, sondern auch, weil man dort vom Verlust, Schmerz und Tod befreit wird. 
Manche haben es sich damals so vorgestellt, wie beim Straßenverkehrsamt. Man zieht eine Nummer und wartet, bis derjenige endlich erscheint. Aber das habe ich nie gedacht. Viel zu steif, unpersönlich und kalt. Jehova ist ja schließlich kein Bürokrat, nur weil er ein Gott der Ordnung ist. Vielmehr findet sich die engste Familie zum genannten Datum an diesem Ort ein. Manche haben Blumen oder Schilder mit lieben Worten in der Hand. 

Claudia und Lydia haben sich jedoch dagegen entschieden und sich etwas Anderes ausgedacht. Dann ist es soweit: Die liebe Schwester, die hier arbeitet (bester Job überhaupt! Ich weiß das, weil ich selbst hier arbeite. Doch heute habe ich frei) führt die beiden durch das Gebäude auf die Rückseite des Anwesens und weiter auf die Terrasse. „Ich bin Anna, eure persönliche Begleiterin. Ich führe euch zur ihr hin. Habt ihr Fragen?“

Etwas schüchtern schütteln sie den Kopf. Schließlich ist das hier eine ganz neue Erfahrung. 

Ein junger Bruder läuft mit einem Tablett herum und bietet Erfrischungen an. Hinter der Terrasse befindet sich ein riesiger Garten mit einer großen Wiese und vielen wunderschönen Pflanzen und Blumen. Der Duft, der einem hier entgegenströmt, ist atemberaubend. 
So langsam werden Lydia und Claudia etwas nervös und Lydia fragt Anna: „Wo ist denn unser Willkommensgeschenk? Ich hatte es vorhin extra schon vorbeigebracht.“

„Hier steht es, du hattest es an diese Wand gelehnt!“, sagt Anna und deutet nach rechts.

„Ach, das ist die Aufregung“, erklärt Lydia sich und bedankt sich bei Anna.

Gemeinsam holen die beiden Schwestern das Geschenk und warten… Sie sind sich unsicher, was jetzt gleich passieren wird bzw. wie der Ablauf ist.

„Ihr könnt ihr ruhig entgegengehen. Sie ist gleich da“, sagt Anna, stellt sich zwischen Lydia und Claudia und streichelt behutsam über ihre Schultern. Sie zeigt mit dem Finger in Richtung des kleinen Sees, dessen Wasseroberfläche in circa 500 Metern Entfernung die Sonne widerspiegelt. Dann machen sie sich auf und gehen über die Wiese. Plötzlich sehen sie etwas in der Ferne: Eine junge Frau mit einem Kleid wie in den 1950er Jahren. 

„Da, das könnte sie sein!“, ruft Claudia und läuft schon mal los. Lydia rennt mit dem Geschenk hinterher. Das Bild von der jungen Frau wird klarer: Dickes, gewelltes Haar, ein Rock mit Petticoat und schicke Schuhe. Sehr groß ist sie nicht, dafür voller Elan. Sie riecht an den Rosen und sieht glücklich aus. Sie betrachtet ihre jungen Hände und fasst sich ins Gesicht. Dann beugt sie sich über das Wasser des Sees und betrachtet ihr Spiegelbild. Schließlich dreht sie sich um und bemerkt die beiden Schwestern, die gerade auf sie zukommen. Sie läuft ihnen entgegen und sie fallen sich in die Arme. Auch wenn es zunächst merkwürdig ist, dass Tante Rose jetzt wieder jung ist, so ist es für ihre Töchter kein Problem, sie wiederzuerkennen. Die Angehörigen wissen es einfach, dass das ihre Mutter oder ihr Vater ist, selbst wenn diese sehr alt gestorben und nun wieder jung sind. 
Nach etwa 10 Minuten Umarmung zu dritt und lauter Freudentränen fällt Lydia das Geschenk wieder ein. Sie hat es vorhin einfach auf den Boden fallen lassen, um ihre Schwester einzuholen. 

„Mama, wir haben hier noch ein Geschenk für dich!“, sagt sie und hebt es gemeinsam mit Claudia auf. 

„Das ist ja `ne Wucht!“, platzt es aus Tante Rose heraus, so wie sie es immer gesagt hat. Sie betrachtet ihr neues Fahrrad. Es ist total bunt und voller Blumen. Lydia zeigt auf den großen Korb, der am Lenkrad angebracht ist. 
„Der ist für die Literatur gedacht. Dann kannst du ab morgen schon gleich wieder loslegen mit dem Predigen.“

„Ja, und jede einzelne Blume wurde von jeweils einer Person auf das Fahrrad gemalt, die dich sehnlichst vermisst. Sie warten schon alle auf dich. Wir haben eine Willkommensfeier geplant. Hast du Hunger?“, fragt Claudia. 

„Ich weiß ja gar nicht, was ich sagen soll… Ihr müsst mir alles erzählen. Wie ist es ausgegangen? Frieden und Sicherheit, die große Drangsal, Harmagedon? Ich will alles wissen. Haben es die Enkelkinder geschafft?“

„Ja, Mama. Es sind alle treu geblieben. Wir warten nur noch auf Papa. Den darfst du dann bald begrüßen!“, erklärt ihr Lydia. 

„Den Rest berichten wir dir später. Du musst jetzt erstmal alle umarmen und etwas essen. Du weißt doch, als Jesus das kleine Mädchen auferweckt hat, sollte sie auch etwas essen.“

„Das ist ein Argument! So machen wir es. Wie viele Jahre habe ich verpasst? Sind die Urenkel schon erwachsen?“, möchte sie dann doch vorab wissen. 

„Naja, etwas älter sind sie schon. Aber viele Jahre sind nicht vergangen. Wir waren dem Ende näher als wir es damals für möglich gehalten haben. Nach deinem Tod ging alles ganz schnell“, erklärt Claudia, während sie langsam das Gelände verlassen. Anna überreicht Tante Rose noch eine kleine Broschüre. Eine Art Infoblatt für alle Auferstandenen. Nun machen die drei einen längeren Spaziergang und betreten schließlich ein wunderschönes Grundstück.

Von weitem hört man schon die Musik. Mutter und ihre zwei Töchter gehen eingehakt durch das Gartentor und betrachten die vielen Leute. Auf der großen Terrasse ist ein strahlend weißes Zelt aufgebaut. Die Tische sind mit Rosen geschmückt. Natascha dreht sich in diesem Moment um und sieht ihre Oma. Kurzerhand spitzt sie die Lippen und ein lautes Pfeifen ertönt. 

„Alle in einer Reihe aufstellen, wie wir es geübt haben!“, ruft sie. Ratzfatz stürmen immer mehr Kinder, junge Erwachsene und mittelalte Erwachsene auf die Wiese in der Nähe des Gartentors und stellen sich wie die Orgelpfeifen in einer Reihe auf. 

„Oma, wir haben uns alle nach Alter aufgestellt. Dann weißt du genau, wer wer ist. Wir sind ja doch alle ein kleinwenig älter geworden bzw gewachsen.“

Es dauert nicht lange und bei Tante Rose kullern wieder Freudentränen. „Das Purzelchen ist schon so groß geworden“, sagt sie zu der Jüngsten.
Nachdem jedes Enkelkind und auch die Urenkel umarmt wurden, hört man ein lautes Räuspern. Tante Rose blickt in die Menschenmenge. 

„Jetzt sind wir endlich dran!“, sagt Maren, meine Mutter, mit einem Schmunzeln im Gesicht und wir drängeln uns nach vorne. Auch hier fließen wieder Tränen. 

Es ist ein freudiges Fest mit spannenden Gesprächen, gutem Essen und Tanz. Zu späterer Stunde suche ich Tante Rose unter den Gästen und beobachte, wie sie die Teller zusammenstellt und in die Küche bringt. Natürlich räumt sie gleich wieder auf… Ich muss lachen. Manche Dinge ändern sich nie. Ich gehe ihr hinterher und hole sie wieder in den Garten. Tante Rose war meine Mentorin, Ersatzomi und Freundin. Ich habe sie so sehr vermisst. Deswegen habe ich ein besonderes Geschenk für sie vorbereitet. Das war gar nicht so einfach. Aber mit viel Überredungskunst hat es geklappt.

Alle versammeln sich um Tante Rose und man spürt förmlich die Spannung im Raum. Natascha steht am Gartentor und gibt mir ein Zeichen mit dem Daumen nach oben. Ich gehe mit Tante Rose in den Kreis, der sich aus den Gästen um uns gebildet hat.

„Tante Rose, wir haben noch einen Überraschungsgast für dich organisiert!“, kündige ich an.

„Ahaa, wen denn?“, fragt sie zaghaft und dennoch neugierig. 

Die Menge teilt sich und ein stattlicher Mann kommt in den Garten und geht auf sie zu. 

„Hallo Rose, ich freue mich, dich kennenzulernen“, sagt er. Tante Rose betrachtet ihn von oben bis unten, aber schüttelt den Kopf. „Hmm, ich kenne dich leider nicht. Hilft mir mal jemand auf die Sprünge!?“

„Überleg` ganz genau, Mama!“, sagt Lydia. „Du hast so oft von ihm erzählt.“

Tante Rose zuckt mit den Schultern und ist etwas ratlos. „Ach so? Aber er kennt mich ja anscheinend auch nicht…“. An den jungen Mann gewandt, sagt sie: „Wie heißt du denn?“

„Ich bin`s, Daniel!“

Claudia rempelt ihre Mama leicht mit dem Ellbogen an und flüstert ihr ins Ohr: „Mama, das ist DER Daniel!“

Tante Rose ist das erste Mal in ihrem Leben sprachlos und die Kinnlade klappt herunter. 
Wir anderen kriegen uns nicht mehr ein vor lauter Lachen. Schließlich hatte sie sonst auf alles eine Antwort.

Tatsächlich ist es so, dass Jehova es den Treuen aus alter Zeit ermöglicht hat, eher aufzuerstehen. Sie gehörten zu den Ersten, wurden belehrt und leiten nun das große Predigtwerk.

Daniel kommt einen Schritt auf sie zu und legt ihr beide Hände auf die Schultern. „Ich glaube, wir beide haben uns viel zu erzählen. Ich bin so gespannt, was du alles erlebt hast.“

„Ich???“, fragt Tante Rose überrascht. „Zuerst möchte ich alles von dir wissen. Ich habe so viele Fragen!“

Daniel lächelt sie warmherzig an: „Wir haben genug Zeit!“

Ich nicke und denke darüber nach. Zeit…, Ewigkeit…. was für ein kostbares Geschenk Jehovas!

 

Und endlich stand die Zeit nicht mehr 
wie ein Wächter hinter mir. 
Sie ließ mich los, 
verlor sich in den Wipfeln ewiger Bäume. 

Kein Takt, kein Drängen, 
nur das leise Atmen der Unendlichkeit, 
die nicht beginnt 
und niemals endet - 
nur ist.

 

 

 

 

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